Samstag, 8. Januar 2011

Die Schuldenbremse ist seit langem überfällig, doch heute ist sie falsch

Schulden schränken die Handlungsmöglichkeiten eines Staates ein.
Gute Politik aber hält Handlungsmöglichkeiten offen.

Die französische Revolution war erfolgreich, weil sich die absolutistischen französischen Könige hoffnungslos überschuldet hatten.
Wenn Ludwig XVI. keine Schuldenzinsen zu zahlen gehabt hätte, hätte er mühelos Hofhaltung und Armee bezahlen können. Er hätte die Generalstände nicht einzuberufen brauchen, der dritte Stand hätte sich nie zur Nationalversammlung erklären können. Der französische Absolutismus ist wegen seiner Überschuldung zusammengebrochen. (Ähnliche Gründe gibt es auch für die Auflösung der Sowjetunion und der DDR.)

Wenn das bekannt ist, weshalb ist es dann trotzdem zur Überschuldung der Bundesrepublik gekommen?

Franz Etzel hat die bis dahin übliche strikte Haushaltsdisziplin verlassen, um massive Steuersenkungen zu ermöglichen, die die Wirtschaft ankurbeln sollten.
Das wäre unproblematisch gewesen, wenn dann in Zeiten des Booms gespart oder die Steuererleichterung wieder zurückgenommen worden wäre. Das fand aber nicht statt. Allzu nahe legt es sich für Regierungen, Wahlgeschenke zu verteilen.
Noch massiver stellte sich das Problem nach der Rezession von 1966/67. Konsequente Verfolgung keynsianistischer Politik brachte die Wirtschaft wieder in Gang, aber das Sparen in Zeiten des Booms (das nach Keynes dazugehört) unterblieb.
Die Ölkrisen und die dadurch hervorgerufenen Weltrezessionen erschwerten die Situation noch. Dennoch war die Bundesrepublik im internationalen Vergleich relativ wenig verschuldet, weil sie erst 1949 gegründet wurde und damals schuldenfrei gestartet war.
Das änderte sich erst 1990, als die BRD wider alle ökonomische Vernunft mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion (aus nachvollziehbaren politischen Gründen) den weitgehenden wirtschaftlichen Zusammenbruch der neuen Bundesländer in Kauf nahm und die sozialen Folgekosten nicht solide finanzierte. (Damals wäre ein neues Lastenausgleichsgesetz gewiss politisch durchsetzbar gewesen, wie Adenauer es unter wirtschaftlich weit ungünstigeren Bedingungen durchsetzte.) Außerdem aber folgten alle Regierungen ab 1990 - mehr oder minder - der neoliberalen Devise, dass der Staat möglichst arm ("schlank"), der Privatsektor aber möglichst reich sein sollte, und ließen eine Steuererleichterung der anderen folgen.
Selbst das wäre noch zu ertragen gewesen, wenn die neoliberale These gestimmt hätte, dass niedrige Steuersätze die Wirtschaft so ankurbeln, dass der Staat aufgrund der gesteigerten Aktivitäten sogar Mehreinnahmen erzielte. (Weitere Hinweise zu diesem Zusammenhang hebe ich für später auf.)

In dieser Situation kam es zur Finanzkrise, zur Übernahme der Verantwortung der Fehlspekulationen der Banken durch den Staat, zur Förderung maßloser Umsätze der Banken und entsprechende vertragsgemäße Bonuszahlungen in vielfacher Millionenhöhe, die der Staat nicht wieder einzog.
Im Herbst 2008 sah es eine Zeit lang so aus, als wäre die Finanwelt im Bewusstsein der historischen Fehler, die sie begangen hatte, zu einer Umoganisation bereit gewesen. Peer Steinbrück hat das in "Unterm Strich" eindrucksvoll geschildert (vgl. S.213 u.a.).
Ob es damals möglich gewesen wäre oder nicht: Jedenfalls wurde weder damals noch danach die Möglichkeit zu einer sinnvollen Regulierung genutzt. Zu den Garantien für die an sich bankrotten Banken traten dann die Garantien für die Euro-Staaten Griechenland und Irland, denen ein Bankrott drohte (dazu und zu den Zukunftsaussichten vgl. N. Roubini). Wieder machten und machen die Banken risikoarme Gewinne, von denen die Staaten nichts abzuschöpfen verstehen.
Da keine zureichend wirkungsvollen Finanzregeln durchgesetzt werden konnten, steht den Staaten früher oder später eine neue Runde von Staatsgarantien für bankrotte Banken ins Haus. Dafür will man gerüstet sein, deshalb gilt es jetzt die Staatsfinanzen zu sanieren. Dafür braucht man die Schuldenbremse.
Die Gesamtbevölkerung soll für die Kosten der Deregulierung aufkommen. Das kann nicht gut gehen, und das darf sie nicht mitmachen.

In Hessen will Bouffier nun mit dem Argument "Niemand darf mehr ausgeben, als er hat" sogar eine Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung für die Schuldenbremse durchbringen. (Als hätte er nicht die hessischen Milliardenschulden mitzuverantworten.) Danach sollen dann alle sozialen Kürzungen und Streichungen im Bildungsbereich damit gerechtfertigt werden, dass das Volk selbst es ja so beschlossen habe. Dabei ist von allen politischen Schlagworten doch wenigstens das eine nicht zu bestreiten, dass nämlich im Bildungsbereich über Deutschlands wirtschaftliche Zukunft entschieden wird.

Die Schuldenbremse ist überfällig. Sie als Rechtfertigung für Untätigkeit bei Finanzregulierung und Bildungsinvestitionen zu benutzen, ist verantwortungslos.
Jede Regierung in Deutschland hätte die Möglichkeit, sich ernsthaft Schuldenbegrenzung zur Aufgabe zu machen. Einer verfassungsmäßig verankerten Schuldenbremse zur Rechtfertigung politischer Untätigkeit werde ich meine Stimme nicht geben.

Aus der Vielzahl von Material zur hessischen "Schuldenbremse" sammle ich hier ein paar mir bedeutsam erscheinende Hinweise:
Die Schulden des Bundes und der Länder sind in den vergangenen Jahren ständig gewachsen. Allein in der Zeit zwischen 2000 und 2009 sind sie um mehr als 40 v.H. gestiegen und erreichten im Juni 2010 nahezu 1.600 Mrd. €. In Hessen ist eine vergleichbare Entwicklung zu beobachten mit der Folge, dass die Verschuldung zur Jahresmitte 2010 bei annähernd 34,4 Mrd. €
lag. Schon die Zinsbelastung beträgt im Jahre 2010 allein für den Bund
nahezu 37 Mrd. €; für Hessen liegt sie bei derzeit etwa 1,5 Mrd. €.
In gemeinsamer Verantwortung für kommende Generationen muss diese
Entwicklung gestoppt werden.
So heißt es in der Begründung des gemeinsamen Antrags von CDU, FDP, SPD u. Grünen zur Änderung des Gesetzentwurfs von CDU und FDP zur Schuldenbremse.

Nun frage ich mich: Wer hat denn die Schuldenentwicklung vorangetrieben?
Die Regierungsfraktionen CDU und FDP, die den Gesetzentwurf eingebracht haben.
Weshalb haben SPD und Grüne sich einbinden lassen?
Weil sie die für Kommunen, Bildung und sozial Schwache noch schädlichere Version verhindern wollten.
Weshalb sollte ich diesem Kompromiss zustimmen, wenn ich keinerlei Verhandlungsmacht habe, dazu beizutragen, dass er weniger feindlich für Kommunen, Bildung und sozial Schwache wird?

Links:
Warnung vor der hessischen Schuldenbremse (unter: http://www.erspart-uns-das.de/)

In USA Warnung vor Schuldenbegrenzung weil sie die Gefahr der Zahlungsunfähigkeit heraufbeschwöre (unter: http://www.ftd.de/politik/konjunktur/:appell-an-den-kongress-geithner-warnt-vor-zahlungsunfaehigkeit-der-usa/50212206.html)
FDP warnt: Eigenbetriebe nehmen der Schuldenbremse ihren Sinn.
SPD-Fraktion weist auf Aushungerung der Kommunen hin.
Meiner Meinung nach ist der Tatbestand ein Argument gegen die Schuldenbremse, weil sie zur Rechtfertigung diese Aushungerung benutzt werden könnte. Die SPD-Fraktion selbst sieht es anders.

Keine Kommentare: