Dienstag, 15. November 2016

Steckt die westliche Demokratie in der Krise?

In welche Richtung Donald Trump die USA führen wird, darüber herrscht auch nach der Ernennung seines Teams und Interviews zu seinen Regierungsvorhaben noch wenig Klarheit. Einige Kommentatoren sehen in Trumps Wahlsieg ein weiteres Zeichen für den Untergang westlich-liberaler Demokratievorstellungen. Für andere ist er die gerechte Ohrfeige für das linksliberale Establishment.
(euro|topics:  Steckt die westliche Demokratie in der Krise?)

THE WASHINGTON POST (US)
Albtraum für Liberale ist wahr geworden 
Liberale in den USA stehen vor vier schwer erträglichen Jahren, schreibt Karikaturenzeichner Tom Toles in der Washington Post:
„Man könnte sagen, dass es kein besseres Ergebnis hätte geben können, um den Liberalismus in den Vereinigten Staaten zu zerstören und zu demoralisieren, soweit das Auge sehen kann. Da habt ihr's, so sieht das Worst-Case-Szenario für Liberale aus - und es wird mindestens vier Jahre bestehen bleiben. Wie sich das anfühlt? Schlimmer als ihr euch das vorstellen könnt. Ich habe nicht wenige Erwachsene weinen gesehen, und das wiederholt. Wenn ihr also darauf gehofft hattet, schadenfroh sein zu können, dann habt ihr jetzt die Gelegenheit, das voll auszukosten. Die Regierung des Landes ist nun gänzlich in eurer Hand.“ (Tom Toles)

 ÚJ SZÓ (SK)
Trump ist der Höhepunkt eines Trends
Der Vormarsch von Populisten in der westlichen Welt ist am Ende dieses Jahres nicht mehr zu übersehen, warnt Új Szó:
 „In den Niederlanden wurde in einem Referendum einer weiteren Annäherung zwischen der EU und der Ukraine eine Absage erteilt. Tatsächlich hatte der Volksentscheid die Europäische Union zur Zielscheibe, die Euroskeptiker wollten lediglich ihre Schlagkraft und ihr Mobilisierungspotenzial testen. Dann folgte der Brexit, der in der EU ein veritables Beben verursachte. ... Das ungarische Referendum war zwar ungültig, indes pflichteten 98 Prozent der beteiligten Bürger der populistischen Hetze der Regierung von Viktor Orbán gegen Flüchtlinge und Einwanderer bei. ... Der vorläufig letzte Erfolg von Demagogie und Populismus ist nun der Triumph Trumps.“

 NRC HANDELSBLAD (NL)
Nur ein Land hält noch dagegen
Nach dem Sieg von Donald Trump ist Deutschland das letzte moralische Vorbild für die westliche Welt, lobt Publizist Joris Luyendijk in NRC Handelsblad:
 „Ein dreifaches Hurra für die deutschen Eliten. Es ist nicht so, dass es in Deutschland keine politischen Glückssucher, Scharlatane, Verschwörungstheorien verbreitende Hetzer oder Neonazis gäbe. Im Gegenteil. ... Doch den deutschen Eliten der Nachkriegszeit gelingt es immer noch, den charismatischen Irrlichtern, Zynikern und rassistischen Demagogen keine Bühne zu geben. ... Deutsche Politiker sind Teamspieler, die sich von ihrem Verantwortungsbewusstsein leiten lassen. Jahrzehntelang verachteten angelsächsische Kommentatoren und Journalisten diese Konsens-Politik: langweilig und grau. Inzwischen kennen wir die Alternativen. Wer Demokratie als Teil der Unterhaltungsindustrie behandelt, der bekommt Trump und Brexit. Das ist die Lektion des Jahres 2016.“

 CORRIERE DELLA SERA (IT)
Die Quittung für die Ignoranz der Etablierten
Die etablierten westlichen Parteien haben den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft aufs Spiel gesetzt und müssen sich nun nicht wundern, wettert der Historiker Ernesto Galli della Loggia in Corriere della Sera:
 „Sozialdemokraten wie Konservative haben den Ernst der Lage nicht nur sehr spät begriffen, sondern wussten auch nicht, wie sie reagieren sollten, als sie es im Zuge der Finanzkrise 2008 endlich kapiert haben. ... Statt nach neuer Motivation und neuen Formen des kollektiven Zusammenlebens in der Krise zu suchen, haben Rechte wie Linke de facto die Auflösung des sozialen Zusammenhalts weiter begünstigt. Sie haben sich in der Regel auf die Seite der 'Großen' geschlagen und den kulturell rückständigeren, demographisch älteren, geographisch peripheren und ärmeren Teil der Bevölkerung vernachlässigt. Sie haben die Rechte des emanzipierten Individuums über die Identität des kleinen Mannes von der Straße gestellt. ... Dabei haben sie vergessen, dass im Moment der Wahlen der Mann von der Straße rein zufällig die Mehrheit bilden kann.“

 THE TIMES (GB)
Trumps Gegner sind die wahren Fanatiker
Nach Trumps Wahlsieg den Untergang des Abendlandes zu predigen, sieht den Linken mal wieder ähnlich, schimpft Kolumnistin Melanie Phillips in The Times:
 „Trumps Sieg werde Hass, rassistische Gewalt und das Ende der Demokratie bringen, wird behauptet. Doch die Opfer von Hass und rassistischen Angriffen sind die Anhänger Trumps. ... Das Ziel der Linken ist es nicht, Ignoranz und Fanatismus zu bekämpfen, sondern Macht und Kontrolle zu erlangen. Seit Jahrzehnten versuchen Liberale, jeglichen Widerstand gegen die revolutionären Versuche der Linken niederzutrampeln, die Gesellschaft nach deren Vorstellungen umzuwandeln. Der Brexit-Trump-Volksaufstand hat ihnen die erste schwere Niederlage zugefügt. Die Linken präsentieren sich selbst gerne als Gemäßigte und die wahren Gemäßigten als Extremisten. Was wir nun sehen ist die Gegenrevolution der Bürger - ein Versuch, die Politik ins wahre Zentrum der kulturellen Schwerkraft zurückzuführen.“ (Melanie Phillips)

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