Dienstag, 26. September 2017

Haben die deutsch-türkischen Auseinandersetzungen SPD und Grünen geschadet?

1,37 Millionen Türkeistämmige haben die deutsche Staatsbürgerschaft. "Klassisch wählt diese Gruppe eher links als rechts, eher progressiv als konservativ." (ZEIT 22.9.17

"Im Sommer 2016 verabschiedete erst der Bundestag auf Initiative von Cem Özdemir eine Armenien-Resolution, die den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich als historischen Fakt anerkannte. Die Resolution belastete die Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei enorm und verstärkte Erdoğans Bestreben, die Türkei zunehmend vom EU-Kurs abzubringen. Wenige Tage später kam es zu einem Putschversuch in der Türkei mit 249 Toten. Seither wurden in dem Land unter anderem Oppositionelle und Zivilisten inhaftiert, darunter sind auch deutsche Staatsbürger, die immer noch auf ihre Anklageschrift warten." (ZEIT 22.9.17
Seitdem gilt Cem Özdemir vielen Türken als Türkenfeind.



Gemeinsamkeiten der politischen Lage in Deutschland und Frankreich

Jürgen Habermas formulierte über die Situation Frankreichs vor der Wahl Macrons:

"Die kompromissunfähig gewordenen Traditionslager, die sich gegenseitig blockieren, sind offensichtlich nicht in der Lage, die politische Willensbildung der Bevölkerung anhand der eigentlich relevanten Fragestellungen zu polarisieren. Nur das könnte aus der Blase des inzwischen numerisch führenden Front National die Luft herauslassen." (Habermas in ZEIT vom 19.4.17)

Entsprechend könnte man über Deutschland  zur Zeit der großen Koalition von 2013-17 formulieren:
In der Konstellation große Koalition gegen zerstrittene kleine Opposition war der Bundestag  "offensichtlich nicht in der Lage, die politische Willensbildung der Bevölkerung anhand der eigentlich relevanten Fragestellungen zu polarisieren. Nur das könnte aus der Blase" der Protestpartei  AfD die 60 Prozent Protestwähler herauslassen, die ihr bei den Wahlen 2017 dazu verhelfen werden, die drittstärkste Kraft zu werden.

Dass die bestehende Konstellation den Rechtspopulisten in die Hände gearbeitet hat, ist die Gemeinsamkeit. Der Unterschied besteht - wenn Habermas und ich mit meiner an ihn angepassten Formulierung recht haben - darin, dass in Frankreich die Kompromissunfähigkeit und in Deutschland der faule Kompromiss eines fragwürdigen Kuhhandels (Maut und Mütterrente für Mindestlohn) die Polarisierung an den gesamtgesellschaftlich wichtigen Fragestellungen verhindert haben. 

Während Macron den Versuch einer gemäßigt neoliberalen Sammlungsbewegung startet, um bei gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen handlungsfähig zu werden, versucht die SPD sich an einer Polarisierung zwischen Unionsparteien und SPD. 
Macron könnte daran scheitern, dass seiner parlamentarischen Mehrheit keine Mehrheit in der Gesellschaft entspricht. Die SPD daran, dass die in großen Koalitionen sozialisierten Parlamentarier keine glaubwürdige Alternative zu Merkels "gemäßigt neoliberalen Sammlungsbewegung" einer Jamaika-Koalition aufbauen können.

dazu:
Kann Labours Wiedererstarkung ein Vorbild für die SPD sein?

Die neue Republik Phoenix (Text u. Livestream)

Europa nach der Wahl in Deutschland


Viele europäische Amtskollegen haben Angela Merkel zum Sieg der Union gratuliert und den Wunsch ausgedrückt, weiterhin gut zusammenzuarbeiten. Kommentatoren allerdings skizzieren große Veränderungen für die Politik in Europa – hervorgerufen durch den Wahlerfolg der AfD und die wahrscheinliche Regierungsbeteiligung der liberalen FDP.
HOSPODÁŘSKÉ NOVINY (CZ)

Das liberale Europa hat sich zu früh gefreut

Der Erfolg der AfD zeigt, dass das Problem des Rechtspopulismus in Europa nach der Niederlage von Le Pen in Frankreich noch lange nicht ausgestanden ist, analysiert Hospodářské noviny:
„Ein großer Teil namentlich der Ostdeutschen ist am Sonntag quasi der Visegrád-Gruppe beigetreten. Die flüchtlingsfeindliche AfD hatte gerade dort die meisten Zugewinne, wohin nach 2015 die wenigsten Ausländer gekommen sind. Es gibt eine Parallele zwischen den deutschen Populisten und den Regierenden in Polen und Ungarn und ähnlichen Gruppen in Tschechien und der Slowakei: je weniger Flüchtlinge, desto größer das Schreckgespenst. ... Außerdem steht Österreich vor einer Regierungsbeteiligung der rechtsgerichteten FPÖ. Die Freude der europäischen Liberalen nach den Wahlen in Frankreich war offensichtlich verfrüht.“
Martin Ehl
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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG (DE)

EU-Schiff auf der Fahrt ins Ungewisse

Ausgerechnet die Wahl in Deutschland macht der EU nun am meisten Ärger, stöhnt die Süddeutsche Zeitung:
„Viel wird davon abhängen, in welchem Ausmaß es der rechten Minderheit gelingt, die europapolitische Agenda zu setzen. Ohne einen proeuropäischen Konsens in Deutschland wäre die EU am Ende. Beunruhigend ist auch die Erkenntnis, dass die von Juncker beklagte Ost-West-Spaltung mitten durch Deutschland geht. Die besonderen Erfolge der AfD im Osten zeugen von einem gesellschaftlichen Klima, das jenem in Ungarn oder Polen nicht unähnlich ist. Männer wie Viktor Orbán in Ungarn und Jarosław Kaczyński in Polen wird das anstacheln. Wohin das Schiff Europa segelt, ist nach der Bundestagswahl unklarer als zuvor.“
Daniel Brössler
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LE FIGARO (FR)

Bürger brauchen ein "schützendes Europa"

Die EU muss nun Macrons Appell nachkommen, ein "schützendes Europa" aufzubauen, mahnt Le Figaro:
„Für Paris sind die Neuigkeiten aus Berlin nicht so toll. Eine geschwächte Merkel IV, die von ihren euroskeptischen Partnern abhängig ist und von der anti-europäischen Opposition vor sich hergetrieben wird. Man glaubt, im Brüsseler Schlachtengetöse bereits Macrons Stimme ausmachen zu können, der Merkel hilft, den Angriffen auszuweichen. 'Mutti, Achtung auf der linken Seite! Achtung, von rechts!' ... Die großen ungelösten Fragen, wie die Migrantenkrise, haben den Durchbruch der deutschen Populisten ermöglicht. Um die EU zu retten, müssen Berlin und Paris ein 'schützendes Europa' aufbauen. Ein Europa, das seine Bürger schützt, seine Grenzen, seine Arbeitsplätze und seine Wettbewerbsfähigkeit.“
Arnaud de La Grange
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PROTAGON.GR (GR)

Griechenland bläst kalter Wind entgegen

Als eine schlechte Nachricht für Griechenland bewertet Protagon das Wahlergebnis:
„Es werden harte Koalitionsverhandlungen werden und die FDP hat bereits Forderungen für das Amt des Bundesfinanzministers erhoben. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass Angela Merkel dies akzeptiert, werden die Gespräche, die die griechischen Minister mit Schäuble hatten, wie Smalltalk auf einem Kindergeburtstag anmuten. FDP-Chef Christian Lindner ist ein Verfechter der harten Linie, der Grexit steht auf seiner Agenda und wenn er zur Eurogruppe stößt, werden [der griechische Finanzminister] Euklidis Tsakalotos und [Premierminister] Alexis Tsipras kapieren, was es bedeutet einen Neoliberalen vor sich zu haben. Und wenn Schäuble in seinem Amt bleibt, wird er noch weniger kompromissbereit sein als bisher.“
Aggelos Kovaios
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GÖTEBORGS-POSTEN (SE)

Große Koalitionen belasten die Demokratie

Die herben Verluste für die Koalitionsparteien in Deutschland sollten auch Schweden zu denken geben, wo nächstes Jahr gewählt wird, mahnt Göteborgs-Posten:
„Dass zwei traditionell dominante Parteien eine große Koalition eingehen, kann auf kurze Sicht verlockend erscheinen, wenn es darum geht, parlamentarische Krisen zu vermeiden. … In Schweden sieht man blockübergreifende Koalitionen und Vereinbarungen oft als eine Möglichkeit, die [rechtspopulistischen] Schwedendemokraten von der Macht fernzuhalten. Am Beispiel Deutschlands sehen wir aber, dass dies langfristig die für eine Demokratie notwendige Opposition aushöhlt und dazu führt, dass ganz neue politische Machtpole entstehen. CDU und SPD mussten zwei harte Wahlniederlagen erleiden, um das einzusehen.“
Adam Cwejman
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Europa nach der Wahl in Deutschland

Montag, 25. September 2017

Wie wird die Wahl Deutschlands Politik verändern? (euro|topics)

Die Bundestagswahl hat Deutschlands Politik aufgerüttelt. Die Volksparteien Union und SPD erlitten schwere Niederlagen. Dafür zieht mit der Alternative für Deutschland (AfD) erstmals eine Partei vom rechten Rand in den Bundestag ein und ist mit 12,6 Prozent drittstärkste Kraft. Europas Presse analysiert die Gründe und mögliche Folgen.
EXPRESSEN (SE)

Die ruhigen Zeiten sind vorbei

Deutschland ist nicht mehr der politische Ruhepol, der es einmal war, meint Expressen:
„Angela Merkels Sieg hat einen bitteren Nachgeschmack. Durch ihre Politik konnte erstmals eine rechtsnationale Partei in den deutschen Bundestag einziehen und drittgrößte Partei werden. ... Ihre Entscheidung aus dem Jahr 2015, die Grenzen für eine Million Flüchtlinge und Migranten zu öffnen, ermöglichte es der AfD, so stark zu werden. ... Alexander Gauland, eine der Führungsgestalten der AfD, versprach in seiner Rede, man werde 'Merkel jagen' und 'unser Land zurückerobern'. Solche Ausdrucksweisen sind wir von deutschen Politikern nicht gewöhnt. ... Viele hatten über einen langweiligen deutschen Wahlkampf geklagt. Das Ergebnis ist nun keineswegs langweilig ausgefallen. Die Welt war bisher eine stabile deutsche Politik gewohnt, eine Politik ohne sonderliche Dramatik. Diese Zeiten sind wohl vorbei.“
Mats Larsson
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LA REPUBBLICA (IT)

Ein Tabu ist gebrochen

Dass zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs eine ausländerfeindliche Partei in das deutsche Parlament einzieht, beunruhigt La Repubblica:
„Selbst wenn wir heute in einer anderen Welt leben und Berlin das Herz der europäischen Demokratie ist, weckt das Ereignis doch unvermeidbare historische Erinnerungen. ... Seit der Geburtsstunde der Bundesrepublik konnte keine politische Gruppe rechts der [CDU-Schwesterpartei in Bayern] CSU die Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug in den Bundestag überschreiten. Das Tabu, das von der Geschichte auferlegt schien, ist nun gebrochen. Es ist ein Ereignis, das die deutsche Demokratie beunruhigt und das Europa kaum gleichgültig lassen kann. Dort gibt es seit geraumer Zeit zwar ausländerfeindliche Bewegungen und Populisten, doch man schätzte gerade die deutsche Ausnahme, weil man dachte, sie trüge der Vergangenheit Rechnung.“
Bernardo Valli
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THE GUARDIAN (GB)

Rechtspopulisten bleiben isoliert

Die AfD ist weit davon entfernt, eine entscheidende Rolle zu spielen, beruhigt The Guardian:
„Zu behaupten, dass jetzt die Geister der Vergangenheit nach Deutschland zurückkehren, wäre übertrieben. Deutschland ist eine stabile Demokratie. Es setzt ganz klar auf das europäische Projekt. Die populistischen Kräfte haben es in Deutschland nicht geschafft, die Politik auf den Kopf zu stellen, wie es in den USA unter Donald Trump und in Großbritannien mit dem Brexit passiert ist. Die AfD zieht ins Parlament ein, aber sie stellt nicht die Regierung. Sie wird eine Ausnahmeerscheinung bleiben, wenn auch eine laute und abstoßende. Sie wird nicht der bestimmende Faktor in Deutschlands Außen- und Europapolitik werden. ... Die AfD bleibt politisch isoliert.“
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LIDOVÉ NOVINY (CZ)

Verteufelung der AfD hat sich gerächt

Union und SPD wurden von den Wählern in verschiedener Hinsicht abgestraft, bemerkt Lidové noviny:
„Zwar wollten die Wähler nichts an ihrem prosperierenden Land ändern - deshalb hat Merkel gewonnen. Die Zahlen zeigen aber freilich ein gemischteres Bild: Die Union gewann, aber mit dem schlechtesten Ergebnis seit 1949. Ähnlich ungünstig sieht die Situation für die SPD aus. Damit wurde die Regierung für ihr Experiment der offenen Grenze abgestraft, für das Gefühl vieler, dass aus Deutschland ein 'lichtes Volk' werde. Vor allem aber wurde die große Koalition dafür abgestraft, dass sie ihre Kritiker und Gegner in die Ecke gestellt hat. Je mehr man die Kritiker als Populisten und Extremisten verurteilte, umso stärker konnten sie bei den Wählern punkten.“
Zbyněk Petráček
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GAZETA WYBORCZA (PL)

Kampf gegen die Feinde der Demokratie beginnt

Der frühere Berlin-Korrespondent der Gazeta Wyborcza Bartosz Wieliński befürchtet, dass auf Deutschlands demokratische Politiker ein harter Kampf wartet:
„Die AfD wird das Parlament in Freunde und Feinde einteilen (so wie das bei uns die PiS-Partei getan hat): in bessere und schlechtere Deutsche, in Patrioten und Verräter. In dieser Atmosphäre kann man keinen gemeinsamen Nenner finden. Die Parteien werden kämpfen müssen, aber die Deutschen können das. ... Es ist zu erwarten, dass die AfD jetzt die liberalen Medien, die Justiz und andere demokratische Institutionen angreifen wird. ... Die Politiker werden sie vom ersten Tag an verteidigen müssen. In Deutschland beginnt ein Kampf gegen die Feinde der Demokratie.“
Bartosz Wieliński
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VEČERNJI LIST (HR)

Was Merkel jetzt tun muss

Merkel muss jetzt vor allem fünf Prioritäten setzen, um ein weiteres Erstarken der AfD zu verhindern, findet Večernji list:
„Erstens: 260.000 illegale Einwanderer abschieben. ... Zweitens: die Einreise nach Deutschland und in die EU strenger kontrollieren. ... Drittens: Geflüchtete klar von Wirtschaftsflüchtlingen trennen. ...Viertens: den Graben zwischen Arm und Reich nicht noch breiter werden lassen. ... Und fünftens: die EU reformieren. ... Denn wenn all das nicht geschieht, könnten die Radikalen nach der nächsten Wahl den Bundestag übernehmen.“
Antonio Mandir
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Wie wird die Wahl Deutschlands Politik verändern?